Stolperstein Anna Boland
In der Wettener Pfarrchronik aus den 1940er Jahren findet sich ein Eintrag der mit dem Hinweis „besondere Sterbefälle" gekennzeichnet wurde. Pfarrer Friedrich Brill, aus dessen Feder der Vermerk stammte, schrieb zum Tod von Anna Boland:
„Am 20. Nov. d. J. [1943] starb Anna Boland in Meseritz, Posen (Anstalt für Geisteskranke) 3 Tage nach ihrem Wegtransport von Grafenberg nach Meseritz! 44 Jahre alt; Todesursache unbekannt."
Anna Christine Boland, wie sie laut Geburtsurkunde hieß, wurde am 26. September 1899 in Hamminkeln-Dingden geboren und zog im darauffolgenden Jahr mit ihrer Familie über den Rhein nach Wetten. Im Lauf ihres Lebens erkrankte sie an Epilepsie. Dies war auch der Grund für eine Behandlung in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg in Düsseldorf, in die sie im Juli 1943 eingeliefert wurde. In der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Grafenberg in Düsseldorf sollte Anna von ihrer vermeintlichen „Geisteskrankheit" geheilt werden.
Weshalb sie bereits im November desselben Jahres in die rund 600 Kilometer weit entfernt gelegene Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde in Meseritz bei Posen verlegt wurde, konnte aufgrund fehlender Akten nicht mehr rekonstruiert werden. Anstatt der vorgesehenen Behandlung und keine Heilung, fand sie den gezielten Tod in einer scheinbaren Heilanstalt fernab der Heimat.
Das Datum ihres Todes am 20. November 1943 ist durch den Eintrag von Pfarrer Brill sowie durch das Sterbebuch der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde belegt. Den Angehörigen wurde mitgeteilt, dass Anna Boland während des Transports nach Meseritz verstorben sei - eine Falschmeldung, die wohl der Verschleierung ihrer Ermordung dienen sollte.
Die von Brill erwähnte Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde wurde 1904 ursprünglich als Nervenheilanstalt in der preußischen Provinz Posen etwa zwei Kilometer von der Kreisstadt Meseritz entfernt errichtet. Unter anderem fanden sich auf dem Anstaltsgelände Bettenhäuser, eine Turnhalle, eine Anstaltskirche, ein Schwimmbad, Werkstätten, eine Fleischerei und sogar ein eigener Bahnanschluss an die Reichsbahn - ursprünglich dafür geplant, damit die Patienten von dort aus zu Ausflügen aufbrechen konnten. Ab 1942 wurde die Bahnanbindung dazu genutzt, um spätabends die Patientinnen und Patienten von Krankentransporten aus dem Rheinland, aus Westfalen, aus Berlin, aus Hamburg und aus Bremen in Empfang zu nehmen und sie noch am Bahngleis zwischen „arbeitsfähig" und „arbeitsunfähig" zu selektieren. Nicht mehr „arbeitsfähig" zu sein, kam in diesem Fall einem Todesurteil gleich; diese Patienten wurden innerhalb weniger Tage umgebracht, damit hierdurch Platz für neue Patienten aus weiteren Krankentransporten geschaffen werden konnte.
Meist verliefen die Morde nach dem Schema, dass den Patientinnen und Patienten in speziell eingerichteten Sterbezimmern, in denen vorzugsweise den männlichen Patienten eine Spritze mit Morphium gesetzt und anschließend auf das Aussetzen der Atmung gewartet wurde. Weiblichen Patientinnen wurde hingegen vorzugsweise ein Glas Wasser verabreicht, in das zuvor eine tödliche Dosis des Schlafmittels Veronal gelöst wurde. Viele der Ermordeten wurden - zur Verschleierung - anschließend im etwa 100 Kilometer entfernt gelegenen Krematorium in Frankfurt an der Oder eingeäschert oder auf dem anstaltseigenen Friedhof in zwei Massengräbern verscharrt.
Der letzte frei gewählte Wohnort von Frau Anna Boland war ihr Elternhaus am Blumenheideweg 3 in Wetten. Dort erinnert auch der Stolperstein an ihr Schicksal.